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Sina fängt neu an

Wie ist es, ein Leben lang keine Papiere zu haben? In einem männlichen Körper zu leben, sich aber als Frau zu fühlen? Eine Anleitung für das Kopfkino.

Sie lesen den Jahresbericht von Solidara Zürich, weil Sie sich für Menschen interessieren, die es schwer im Leben haben. Die Welt in eine bessere zu verwandeln, liegt Ihnen am Herzen. Vielleicht haben Sie für uns gespendet, vielleicht werden Sie es noch tun. Sie haben den Kurs «Mitgefühl» an der Akademie des Lebens bereits bestanden. Wir können Ihnen leider keine Kursbestätigung ausstellen. Als Dankeschön bieten wir Ihnen aber ein Rollenspiel an. Man kann es eine Mitgefühlsübung nennen oder ein Kopfkino wie im Film «Being John Malkovich» von Spike Jonze. Der Kurs kostet nichts, Sie haben bereits mit ihrer Zeit bezahlt, die Sie verwenden, um den Jahresbericht zu lesen.

Machen Sie ein Rollenspiel

Fortgeschrittene mit gutem Vorstellungsvermögen können auf einem Sofa Platz nehmen und sich zur Lektüre ein Glas Rotwein genehmigen. Für die Anfänger*innen empfehlen wir eine unbequeme Bank an einer Zürcher Strasse, am besten im Nieselregen. Die männlichen Leser können für die Übung einen Rock und High Heels anziehen und sich schminken. Am besten gelingt die Übung, wenn der Schuh drückt, der Rock zu gross ist oder das billige Make-up eine allergische Reaktion im Auge auslöst. Die weiblichen Leserinnen können sich einen Schnurbart ankleben, die Haare unter einem Hut verstecken und sich eine Krawatte umbinden. Tun Sie auf jeden Fall etwas, das auffällt. Etwas, das die Blicke der Leute in der Umgebung und vor allem die Blicke der Polizei auf Sie zieht.

Menschen mit Transidentität können anziehen, was sie wollen, die meisten kennen die fragenden, verachtenden oder aufdringlich bewundernden Blicke der anderen.

Am besten gelingt die Übung, wenn Sie ein paar Tage nichts gegessen haben. Und lassen Sie bitte alle Ihre Ausweisdokumente und Ihr Geld zu Hause. Stellen Sie sich nun vor, Sie haben weder ein Zuhause noch Angehörige. Fakultativ: Stellen Sie sich auch vor, dass Sie zu einer sichtbaren Minderheit gehören, dass Sie zum Beispiel eine andere Hautfarbe haben. Lesen Sie die folgende Geschichte von Sina (Name geändert) in dieser geistigen Verfassung allein und verharren Sie ein paar Minuten in diesem Zustand.

Mit 26 Jahren hat Sina zum ersten Mal eine offizielle Identität.

Sinas Welt

«Ich nenne mich Sina, obwohl ich eigentlich János heisse. Ich bin 26 Jahre alt. Als Baby wurde ich in einem Spital in Ungarn abgegeben. Meine Mutter legte einen Zettel bei. Auf dem Zettel stand der Name meiner Mutter und ihr Herkunftsort: Rumänien.

Ich wuchs in einem ungarischen Waisenhaus auf, weit weg von der Hauptstadt Budapest. In Ungarn hatte ich eine sogenannte ‹humanitäre Aufenthaltsbewilligung›.
Als Kind hat mich meine Aufenthaltsbewilligung in Ungarn nicht interessiert, denn ich war nie auf Reisen, ich verliess das Waisenhaus nie. Nur einmal war ich im Zoo in Budapest, im Rahmen eines Schulausfluges.

Was mich sehr wohl interessierte, waren die Blicke der anderen, denn ich bin Roma-stämmig. Doch das war das kleinere Übel, obwohl das Leben mit dieser Herkunft auch nicht einfach ist. Das grössere Übel war, dass ich mich schon immer als ein Mädchen gefühlt habe.

Ich war gut in der Schule, deshalb erhielt ich ein Stipendium für eine Berufslehre. Doch mein Stipendium lief aus und ich konnte die Lehre nicht beenden.

Als ich volljährig wurde, wurde ich ohne einen Rappen und ohne gültige Papiere aus dem Waisenhaus entlassen.

18 Jahre lang lebte ich im Waisenhaus. Die Leitung des Waisenhauses hatte es aber während all dieser Jahre versäumt, meinen Aufenthaltsstatus zu klären. Ich hatte deshalb keinen Rechtsstatus und keinen Ausweis. Als ich volljährig wurde, wurde ich ohne einen Rappen und ohne gültige Papiere aus dem Waisenhaus entlassen.

Jedes Kind bekommt in Ungarn eine Art finanzielle Starthilfe, ich erhielt aber nichts, da ich aufgrund der fehlenden Dokumente kein Bankkonto eröffnen konnte. Seitdem lebte ich auf der Strasse oder in Absteigen, wo man keinen Ausweis benötigte. Ich lebte dauernd mit der Angst, verhaftet zu werden und in einem Männergefängnis zu landen.

Ich konnte mich nur mit der Sexarbeit über Wasser halten. Niemand gab mir einen Job, wie hätte ich ohne gültige Dokumente einen Vertrag unterschreiben können? Wie hätte ich ein Bankkonto eröffnen können? Eine eigene Wohnung beziehen? Wie hätte ich meine Schule beenden können? Kredit ­aufnehmen? Ein Telefon-Abonnement abschliessen?

Endlich kann ich heiraten

Ich klopfte überall an und bat um Hilfe. Ich irrte herum in Ungarn, in Deutschland, am Schluss in der Schweiz. Weder die Behörden in Ungarn noch die ungarischen Botschaft in der Schweiz noch diverse Hilfsorganisationen konnten mir helfen. Die Rumänen sagten, ich sei ein Ungar, die Ungaren, ich sei ein Rumäne. Niemand hat mein Problem ernst genommen. Ich dachte oft, dass ich auf Grund meines Äusseren diskriminiert werde.

So ging es acht Jahre lang, bis ich im letzten Jahr bei Isla Victoria anklopfte. Dank der Zusammenarbeit von Isla Victoria mit der Juristin Brigitt Thambiah vom Advokaturbüro Kernstrasse wurde ich offiziell als Staatenlose anerkannt und hatte endlich gültige Ausweispapiere.

Ich musste zum Migrationsamt, um ein biometrisches Foto machen zu lassen. Ich fragte die Beraterin bei Isla Victoria, ob ich ein weisses Hemd anziehen müsse. Sie verneinte es lachend. Ich zog trotzdem ein weisses Hemd mit Rüschen an und schminkte mich aufwendig. Denn dieser Ausweis ist der erste Ausweis, den ich als Erwachsene besitze.

Endlich habe ich gültige Papiere. Endlich habe ich eine offizielle Identität, wenn auch auf Papier männlich. Endlich kann ich alles Mögliche machen, vor allem meinen Freund heiraten.»

Autor

Anna Maros, Beratungsteam Isla Victoria

Helfen Sie hier und jetzt

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