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Eine Frage der Gerechtigkeit

Pflegefachfrau und psychosoziale Beraterin Rita Höltschi kümmert sich um die Gesundheit der Sexarbeitenden. Sie erzählt, wie ein kleiner Zustupf eine grosse Wirkung erzielt.

Ich arbeite in der Beratungsstelle Isla Victoria und im Ambulatorium Kanonengasse der Stadt Zürich. Das ist eine gute Kombination. Treffe ich in der gynäkologischen Sprechstunde eine Klientin, die neben medizinischen Problemen zusätzlich auch andere Fragen hat, kann ich sie zu Isla Victoria triagieren. Dort erhält die Klientin Beratung und Unterstützung zu sozialen und rechtlichen Themen.

Neulich hatte zum Beispiel eine Klientin im Ambulatorium einen Eingriff, nach welchem man einige Zeit keine Sexarbeit machen sollte, da die Infektionsgefahr zu gross ist. Die Klientin konnte aber nicht am Ort bleiben, wo sie wohnte, weil sie da Freier hätte bedienen müssen. Ich konnte für sie über Isla Victoria eine Nothilfe-Unterstützung organisieren. So konnte sie in ihr Heimatland zurückkehren, um sich in Ruhe zu erholen.

Jeder Mensch hat das Recht auf Gesundheit.

Rita Höltschi, Team Isla Victoria

Ich finde es wichtig, dass alle Frauen Zugang zu gesundheitlicher Grundversorgung haben. Für mich ist das eine Frage der Gerechtigkeit: Jeder Mensch hat das Recht auf eine Gesundheitsversorgung. Es kann nicht sein, dass eine Frau in eine lebensbedrohliche Situation gerät, weil ein Spital sie auf Grund einer fehlenden Krankenversicherung nicht behandeln will.

Klientin kann zurück zur Familie

Bei Isla Victoria kann ich mit wenig viel bewirken. Vor ein paar Monaten war eine Klientin bei mir, eine ältere Frau aus Lateinamerika. Sie konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr im Erotikgewerbe arbeiten. Sie hatte Schulden, konnte ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen und war verzweifelt. Für sie habe ich einen Antrag auf einen Corona-Batzen der reformierten Kirche Zürich gestellt. Mit dieser Unterstützung konnte die Klientin ihr Leben so organisieren, dass sie schliesslich wieder zu ihrer Familie in Lateinamerika zurückkehren konnte. Es ist jetzt umgekehrt: Jahrelang hatte sie mit ihrem Einkommen in der Schweiz ihre Familie in Lateinamerika unterstützt, nun kümmert sich ihre Familie um sie. Die Klientin kann jetzt auch ihre gesundheitlichen Probleme angehen, sie hat dort eine Gesundheitsversorgung. Diese grosse Veränderung in ihrem Leben war möglich dank Isla Victoria.

An die frische Luft

Unsere Klientinnen arbeiten da, wo sie schlafen. Sie kommen nicht an die frische Luft, sie gehen kaum vor die Haustür. Sie kennen die Stadt nicht und haben Angst, etwas allein ausserhalb ihrer unmittelbaren Umgebung zu unternehmen. Einmal ging ich mit einer Klientin, die an der Langstrasse in Zürich arbeitet, zur Europaallee, ein paar hundert Meter weiter. Sie war noch nie dort. Das nächste Mal konnte sie bereits allein hingehen. Es ist ein Empowerment in kleinen Schritten, doch mit grosser Auswirkung. Ein anderes Mal musste ich mit einer Klientin ins Stadthaus in der Zürcher Altstadt. Die Klientin war begeistert und fing an, den See und die Limmat zu fotografieren. Viele Frauen arbeiten seit Jahren in der Stadt und waren noch nie am See.

Mein Wunsch ist es, mit den Klientinnen ein Picknick draussen am See zu organisieren, um ihren anstrengenden Alltag für ein paar Stunden zu vergessen. So haben sie die Möglichkeit, sich als «normaler» Teil der Stadtbevölkerung zu fühlen.

Kari-Anne Mey, Öffentlichkeitsarbeit