
«Prohibition war noch nie eine Lösung»
Gespräch mit Beatrice Bänninger, Geschäftsführerin von Solidara Zürich und Teamleiterin von Isla Victoria, und Anna Maros, Beraterin bei Isla Victoria, über die steigende Nachfrage bei der Beratungsstelle, das «nordische Modell» und darüber, was Isla Victoria besonders macht.
Rund 24 000 Kontakte mit Sexarbeiter*innen im Jahr 2023: Das bedeutet 9 Prozent mehr als im Vorjahr. Wie geht Isla Victoria mit der steigenden Nachfrage um?
Beatrice Bänninger: Unser Wunsch wäre natürlich, dass es möglichst wenige Frauen mit Unterstützungsbedarf gäbe. Fakt ist aber, dass vor allem aus wirtschaftlichen Gründen immer mehr kommen. Die ganze Arbeitsbelastung liegt auf den Schultern des Teams, das sehr gefordert ist. Anna Maros: Im Beratungsalltag müssen wir unterscheiden zwischen dringenden Fällen und solchen, die noch warten können. Wir konzentrieren uns klar auf unsere Zielgruppe der Sexarbeiter*innen und schicken die Personen, die in anderen Branchen arbeiten, etwa ins Café Yucca.
Welche Tendenzen sind erkennbar?
B.B.: Rein zahlenmässig stand bei den Beratungen das Thema Gesundheit 2023 an erster Stelle, gefolgt von Finanzen, Migration und Wohnen. A.M.: Wir verzeichnen eine grössere Anzahl an Sexarbeiter*innen aus Südamerika. Dort, aber auch in Ländern wie Ungarn, Rumänien oder Nigeria, ist die wirtschaftliche Misere gross. Aufgrund der Wohnungsnot und der daraus resultierenden Wuchermieten sind vor allem Sexarbeiter*innen im Langstrassenquartier immer häufiger gezwungen, sich zu dritt oder zu viert ein Zimmer zu teilen und unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben.
Strassenstrichzonen im Gebiet Langstrasse/Kernstrasse
Anfang Jahr wurde im Gemeinderat ein Postulat eingereicht: Geeignete Strassenabschnitte im Gebiet Langstrasse/Kernstrasse sollen als Strassenstrichzonen gelten. Wie steht Isla Victoria dazu?
B.B.: Grundsätzlich gilt: Wenn es Regeln gibt, müssen sie auch eingehalten werden. An der Langstrasse ist die Situation aber absurd – ausgerechnet dort, wo das Milieu am sichtbarsten ist, gibt es keine offiziellen Strassenstrichzonen. Das hat zur Folge, dass die Frauen gebüsst und damit kriminalisiert werden. Und zwar sobald sie einen Fuss aus der Kontaktbar setzen und anschaffen. Eine offizielle Strassenstrichzone untersteht der Prostitutionsgewerbeverordnung, somit wäre nicht alles möglich. Wir begrüssen generell jede Massnahme, die der Kriminalisierung von Sexarbeiter*innen entgegenwirkt.
Die Langstrasse ist nun tagsüber autofrei. Wie wirkt sich die neue Situation auf die Sexarbeit aus?
A.M.: Als Fahrradfahrerin begrüsse ich die neue Regelung, aber für die Sexarbeitenden war die Autokolonne wie ein Vorhang; sie waren verdeckter. Auch die Zahl der Laufkundschaft ist gesunken. Viele ausländische Sexarbeiter*innen spüren die Wirtschaftskrise doppelt: hier und zu Hause.
Viele ausländische Sexarbeiter*innen spüren die Wirtschaftskrise doppelt: hier und zu Hause.
Anna Maros, Beratungsteam Isla Victoria
In der Schweiz werden immer wieder Forderungen nach dem «nordischen Modell» laut, einem Sexkaufverbot für Freier. Warum ist das für Isla Victoria der falsche Ansatz?
B.B.: Weil Prohibition noch nie eine Lösung war. Nicht in den 1930er-Jahren, als es darum ging, den Alkoholkonsum einzuschränken, und auch nicht während Corona, als Sexarbeiter*innen im Kanton Zürich ihrer Arbeit nicht mehr legal nachgehen durften – was zu mehr Gewalt führte. Viele wollen Sexarbeit mit dem «nordischen Modell» abschaffen, aber sie wird nicht einfach verschwinden.
Die Dienstleiterin EA Strukturkriminalität, Schwerpunkt 1, die sich bei der Kantonspolizei Zürich mit Menschenhandel befasst, gibt im aktuellen Jahresbericht von Solidara Zürich Einblick in ihre Arbeit. Wie sieht die Zusammenarbeit mit dieser Behörde aus?
A.M.: Wenn unsere Klient*innen von der Förderung der Prostitution oder von Menschenhandel betroffen sind und sie uns das anvertrauen, können wir auf Wunsch den Kontakt zur Stadt- oder Kantonspolizei herstellen. Manchmal übernehmen wir bei solchen Erstgesprächen auch die Rolle der Gastgeberin. Es ist ein gegenseitiger Annäherungsprozess. Da die Betroffenen uns und den Ort kennen, haben sie Vertrauen. Sie können ihre Geschichte erzählen und der oder die spezialisierte Mitarbeiter*in der Polizei informiert sie über die Möglichkeiten und leitet gegebenenfalls die nötigen Schritte ein.
Vieles wird erst durch den Mittagstisch möglich
Was macht Isla Victoria für euch zu etwas Besonderem?
B.B.: Das wunderbare Team und die Tatsache, dass die ganze Palette der psychosozialen, sozialarbeiterischen und gesundheitlichen Arbeit und unser Verpflegungsangebot sich gegenseitig befruchten. A.M.: Dass Sexarbeitende bei uns unter sich sind und wir ihnen eine Auszeit bieten können. Einzigartig ist auch unser Mittagstisch, der vieles ermöglicht: zwischen uns und den Klient*innen, aber auch untereinander.