«Entweder man gehört dazu, oder man ist unten durch»
Einladung zum Perspektivenwechsel à la «Walk a mile in their shoes»: Lourdes, 55, kommt aus Paraguay und lebte und arbeitete viele Jahre lang in Spanien. Seit Sommer 2023 ist sie in der Schweiz und leidet unter ihren Arbeitsbedingungen als Putzkraft.
Ich bin im Juni 2023 mit dem Bus von Spanien in die Schweiz gekommen. Vorher war ich in Alicante, wo ich in einer Bar arbeitete. Als ich 20 000 Euro auf der Seite hatte, bekam ich einen Tipp und kaufte Tesla-Aktien. Das Geld hatte ich mir schon sehr lange vom Mund abgespart. Doch das Geschäft ging schief, und ich stand Knall auf Fall ohne Geld da.
Kurz darauf lernte ich eine Frau kennen, die mir von der Schweiz vorschwärmte. Konkret: von den intakten Chancen, hier einen Job mit gutem Einkommen zu finden. Da ich in Spanien altersbedingt immer weniger Chancen hatte, beschloss ich, mir ihr nach Zürich zu reisen.
Ich ahnte damals nicht, dass es hier so hart werden würde. Kaum in Zürich angekommen, wurden wir von der Polizei kontrolliert. Ich blieb ruhig, da ich ja einen EU-Pass hatte. Doch dann nahmen die Beamten meine Bekannte einfach mit. Mir sagten sie, ich solle vorsichtig sein, denn ich hätte der Frau nicht vertrauen sollen. Sie ködere Menschen wie mich mit falschen Versprechen.
Ich fiel aus allen Wolken. Da war ich nun: in einem fremden Land, ohne Dach über dem Kopf, ohne Arbeit. Ich versuchte, online in der Latino-Community Unterstützung zu finden. Erfolglos. Todmüde irrte ich stundenlang durch die Stadt. Als ich mit meinen Kräften am Ende war, fand ich über Facebook einen Kontakt in Regensdorf. Dort bot jemand einen Schlafplatz für 400 Franken pro Monat an.
Drei Monate lang schlief ich dann in einem Wohnzimmer auf dem Boden. Danach teilte ich mir ein Zimmer mit sechs anderen Menschen in derselben Wohnung. Die Leute waren zum Teil stark alkoholisiert oder standen unter Drogen. Doch ich unterdrückte meine Angstgefühle. Ich brauchte dringend Geld. Nicht für mich: In Spanien unterstütze ich meinen schwerkranken Enkel, in Paraguay meine Mutter, die an Alzheimer erkrankt ist und Pflege braucht.
Meinen ersten Job bekam ich auf dem Bau, in der Gebäudereinigung. Die Arbeit war körperlich anstrengend, aber ich hatte keine andere Wahl. Nach einiger Zeit fand ich eine Stelle in einem Putzinstitut. Dort bin ich immer noch, aber meine Situation hat sich nicht verbessert – im Gegenteil: Zurzeit habe ich nur eine feste Putzschicht in Zürich, zwei Stunden morgens ab sechs Uhr. Ansonsten werde ich nach Bedarf eingesetzt. Diejenigen, die etwas zu sagen haben, bevorzugen immer ihre Landsleute. Entweder man gehört dazu, oder man ist unten durch. Meistens werde ich auch dort eingeteilt, wo die meiste Arbeit anfällt. Mehr Zeit kann ich deswegen nicht verrechnen. Es gibt Monate, in denen ich nicht mehr als 900 Franken verdiene.
Eine gute Arbeit zu finden und ein menschenwürdiges Leben zu führen, das wünsche ich mir.
Mein Vater sagte immer: «Das Leben ist scheisse, aber trotzdem lustig.» Und ja: Es ist besser, das Leid lachend zu ertragen. Gleichzeitig trichterte er mir auch ein, dass diejenigen, die ihre Arbeit gut machen, am Ende auch belohnt werden. Daran habe ich lange geglaubt. Aber hier in der Schweiz konnte ich mich anstrengen, so viel ich wollte, es änderte nichts.
Eines Morgens kam ich im Zug ins Gespräch mit einer Frau aus der Dominikanischen Republik. Sie bemerkte, dass es mir sehr schlecht ging, und empfahl mir, das Café Yucca aufzusuchen. Dort hätte man ihr auch geholfen. Desillusioniert lehnte ich ab, aber die Frau bestand darauf, mich nach der Arbeit ins Café Yucca zu begleiten.
Seit jenem Morgen im Juli 2024 ist das Café Yucca jeden Dienstag meine Anlaufstelle. Nach vielen Monaten der totalen Isolation, in denen ich sogar an Selbstmord dachte, kann ich dort alles loswerden, was mich belastet. Mein Berater hört mir zu und unterstützt mich auch. So hat er für mich ein anderes Zimmer in Regensdorf gefunden oder das Chaos beseitigt, das entstanden war durch eine falsche Online-Bestellung, für die ich sogar verklagt wurde.
Seit ich Paraguay im Jahr 2005 verlassen habe, um meinem ersten Mann mit meinen beiden Söhnen nach Spanien zu folgen, bin ich jeden Tag in Gedanken in meinem Heimatland. Ich erinnere mich an den Kindergarten, wo ich klassischen und folkloristischen Tanz unterrichtete. Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er im Garten Bücher vergräbt, weil während der Militärdiktatur Bildung und somit auch Bücher verboten waren.
Mit 20 Jahren heiratete ich meinen ehemaligen Lehrer von der Hotelfachschule. Von dieser Ehe versprach ich mir mehr Freiheiten – was ein Irrtum war. Trotzdem führte ich mit meinem ersten Mann viele Jahre lang sehr erfolgreich ein Restaurant in der Hauptstadt Asunción. Bis er, ohne mich zu fragen, unseren Vermieter zum Teilhaber machte. Damals wusste er noch nicht, dass der neue Geschäftspartner bankrott war. Wir verloren alles, und ich musste sogar meine Kleider verkaufen, damit wir genug zu essen hatten.
Es gab noch weitere schwere Schicksalsschläge in meinem Leben. Der Tod meines Vaters, dem ich sehr nahestand, obwohl er ein strenger Vater war. Meine Krebsdiagnose. Ich wohnte damals mit meinen beiden Söhnen auf den Kanarischen Inseln. Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Krank vor Sorge, holte mich meine Mutter nach Paraguay zurück, wo ich notoperiert wurde und mich langsam erholte. Danach fand ich in meiner Heimat aber keine Anstellung mehr. So kehrte ich ohne meine Söhne nach Spanien zurück, wo ich bei einer Versicherung, in der Altenpflege und als Handarbeitslehrerin arbeitete.
Mein zweiter Ehemann, ein Ingenieur, verbot mir nach der Hochzeit, berufstätig zu sein. Gleichzeitig wurde ich als Südamerikanerin von seiner Familie, mit der wir das Haus teilten, abgelehnt. Die Eltern unterstellten mir immer wieder, ich hätte ihren Sohn nur des Geldes wegen geheiratet. Mein Mann widersprach nicht. Nach zwölf Jahren verliess ich ihn, ohne finanzielle Ansprüche zu stellen. Ich ertrug die Boshaftigkeiten und die falschen Anschuldigungen nicht mehr.
Heute lebe ich in einem der reichsten Länder der Welt, aber meine Situation ist prekärer denn je. Mein Vater erzählte mir früher, dass die Schweiz und Paraguay viel gemeinsam hätten. Deshalb war die Geschichte von Heidi in meinem Leben immer sehr präsent. In Madrid habe ich eine Heidi-Schachtel gefunden, die jetzt hier in meinem Zimmer im Regal steht. Heidis Schicksal und mein eigenes sind sehr ähnlich. Wir haben beide viel gelitten. Aber es ist leicht aufzugeben, wenn es nicht gut läuft; es ist leicht, an sich zu zweifeln. Das wirkliche Scheitern besteht darin, es nicht mehr zu versuchen. Eine gute Arbeit zu finden und ein menschenwürdiges Leben zu führen, das wünsche ich mir.
Fotos: Meinrad Schade