Ein Ort, wo man zur Ruhe kommen kann
Gut essen und auftanken: Für die Sexarbeiter*innen ist der Mittagstisch ein Treffpunkt und ein Schutzort.
In dieser Küche wird mit der grossen Kelle angerichtet. Köchin Jennifer Castillo kippt den Reis gleich kiloweise in den grossen Topf. An diesem Dienstagvormittag Ende März kocht sie für 85 Personen. Auf der Arbeitsfläche türmt sich das Gemüse in allen Farben, Peperoni, Karotten, Zwiebeln warten darauf, geschnitten zu werden und im anderen grossen Topf mit dem Hackfleisch zu landen. Eine grosse Schüssel mit Kopfsalat steht schon gewaschen bereit.
Drei Mal pro Woche bietet die Beratungsstelle Isla Victoria im Zürcher Langstrassenquartier einen Mittagstisch für Sexarbeiterinnen an. Der Mittagstisch ist sehr beliebt. Im Schnitt werden 76 Mahlzeiten pro Mal abgegeben. Oft stehen die Sexarbeiterinnen vor der Eingangstür Schlange. Für das Essen bezahlen sie einen symbolischen Beitrag von zwei Franken, wer gar kein Geld hat, erhält das Essen auch gratis. Das gemeinsame Essen füllt jedoch nicht nur den Magen. Die Sexarbeiter*innen können über Mittag auch gleich in den Beratungsbüros der Sozialberatung in den Nebenzimmern vorbeischauen, sich Rat holen oder einen Termin für ein vertiefteres Gespräch abmachen.
Sieben Jahre habe ich meine Kinder nicht mehr gesehen.
Helen, Sexarbeiterin aus Westafrika
Die ersten zwei Gäste trudeln ein. Sie setzen sich an einen der zwei Tische. Helen und Joy sind Mitte Dreissig und stammen beide aus Westafrika. Sie arbeiten in einer nahe gelegenen Kontaktbar. Beide haben Kinder in Westafrika und schicken ihnen Geld. Die Kinder werden von Verwandten betreut.
Helen und Joy sind 2016 aus ihrer Heimat in Westafrika nach Italien gereist. Auf die Frage, warum sie die Reise angetreten haben, mögen sie keine Antwort geben. «Es ist eine lange Geschichte», sagt Helen, «sieben Jahre habe ich meine Kinder nicht mehr gesehen, ich vermisse sie sehr. Für eine Mutter ist das schmerzhaft. Ich habe aber kein Geld, um nach Afrika zu reisen.» Sie kommt jede Woche an den Mittagstisch. «Das Essen schmeckt mir und die Leute hier sind freundlich und nicht rassistisch.» Auf ihre Arbeit in der Kontaktbar angesprochen, zuckt Helen mit den Schultern, «es ist normal.»
Elaine war früher Kindergärtnerin
Mittlerweile hat die Köchin Jennifer das Essen fertig aufgetragen und fängt an, die Teller zu füllen. Für Helen und Joy schöpft sie grosse Portionen auf den Teller. Es ist 12 Uhr, der Mittagstisch hat offiziell angefangen und die Frauen kommen in Gruppen oder einzeln zur Tür herein. Die beiden Tische sind inzwischen voll besetzt. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen, Stimmengewirr in vielen Sprachen, Geklapper von Geschirr und Besteck.
Am anderen Tisch sitzt Elaine. Sie kommt aus Südeuropa, ist Mitte Dreissig und seit Februar in Zürich. Ihre Mutter und Elaines zwei Kinder im Schulalter leben in Südeuropa. Früher arbeitete Elaine als Kindergärtnerin. «Doch dann ist mein Arbeitsvertrag abgelaufen», erzählt Elaine, «und ich hatte kein Geld mehr». In Zürich hat sie temporär ein Zimmer gemietet, zusammen mit zwei anderen Frauen betreibt sie einen kleinen Salon. Auch Elaine schickt Geld an ihre Familie. Elaine kann das Zimmer bis im April 2023 mieten. Sie schaut auf ihren Teller und sagt: «Ich weiss nicht, was ich als nächstes mache.»
Ganzes Wochenende nichts gegessen
Gegen zwei Uhr leert sich der Gastraum langsam. Köchin Jennifer kann sich für einen kurzen Moment hinsetzen. Seit mehr als zehn Jahren kocht sie für den Mittagstisch. Am Anfang brauchte es ein wenig Zeit, bis die Sexarbeiterinnen Jennifer akzeptiert hatten, einige waren in einer schlechten Stimmung und Jennifer musste intervenieren. «Der Mittagstisch ist ein Ort, wo man sich erholen und zur Ruhe kommen kann. Darum ist es wichtig, dass die Stimmung friedlich ist.» Jennifer erklärt: «Oft stehen die Sexarbeiterinnen vor der Eingangstür Schlange. Einige haben mir schon gesagt, dass sie das ganze Wochenende nichts gegessen haben. Dann schöpfe ich grosse Portionen für sie.»
Am meisten Freude macht es Jennifer, dass den Frauen ihr Essen schmeckt. «Ich habe dein Essen vermisst», sagen sie, wenn Jennifer aus den Ferien zurückkommt. Für Jennifer ist das ein schönes Kompliment, «ich stecke meine Energie in das Essen, das ich koche».