Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss erhielt für seine Dramen, Romane und Essays den renommierten Georg-Büchner-Preis. Als junger Mann war er mehrfach obdachlos und erfuhr die Armut am eigenen Leib.
Bild: Claudia Herzog
Die Predigt vom Zusammenhang
Autor Lukas Bärfuss plädiert für eine andere Sichtweise auf Armut und Reichtum. Auszug aus seiner Gastpredigt, gehalten am 6. Februar 2022 im Zürcher Grossmünster.
«Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Doch weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.» (Lukas 6, 20 – 25)
Lassen Sie uns, auch wenn es in dieser Stadt, hier in Zürich, schwierig sein mag, kurz über die Armut nachdenken. (…)
Armut bedarf eines Unterschieds. Wenn alle gleich viel oder gleich wenig besässen, wenn also unter den Menschen völlige Gleichheit herrschte, dann wäre der Begriff der Armut sinnlos. Armut braucht den Vergleich, Armut braucht den Unterschied, Armut braucht den dialektischen Gegenbegriff, den Reichtum. Armut gibt es nur, wenn es Reichtum gibt. (…)
Armut stinkt. Sie ist nicht schön. Mit der Armut kommt die Scham und mit der Armut kommt die Peinlichkeit. Mit der Armut kommt das Leiden an sich selbst, an der Welt, am Anderen. Armut tötet, sie tötet Menschen, sie tötet die Freundschaft und sie tötet die Liebe. Vielleicht kann man dasselbe vom Reichtum sagen, aber gewiss ist arm und reich kein Gegensatz, sondern ein Zusammenhang. Und wir brauchen nicht die Umkehrung des Gegensatzes, die Änderung der Vorzeichen, wir brauchen einen anderen Zusammenhang.
Gerechtigkeit ist immer im
Lukas Bärfuss
Interesse aller.
Denn falls es eine Hölle geben sollte, falls es den Hades geben sollte, dann werden wir uns alle, ihr und ich, gewiss dort wiederfinden. Oder kennt jemand von Euch einen Gerechten? Ist jemand von Euch in seinem Leben einem Gerechten begegnet? Jemand, von dem ihr sicher sagen könnt, nach allen Kriterien, die Gott und seine Propheten definieren, dass er den Eintritt ins Himmelreich auf sicher hat? Einen solchen Menschen kenne ich nicht. Ich kenne keinen solchen Gerechten, und ich weiss auch nicht, wo er leben sollte. Wie kann es in einer ungerechten Welt einen Gerechten geben?
Wenn wir der Hölle entkommen wollen, hier und im Jenseits, dann ist die einfache Umkehrung des alten Prinzips keine gute Lösung. Und es wird auch nicht helfen, auf eine Autorität zu hoffen, die das regeln könnte, auch nicht auf eine Religiöse. (…)
Menschen haben eine tiefe Empfindung für Ungerechtigkeit, und sie haben ein unausrottbares Bedürfnis, dieser Ungerechtigkeit zu entkommen.
Rachegefühle sind politisch wirksam, Wut kann ganze Gesellschaften verändern, aber für das eigene Leben ist beides Gift. Man kann sich nicht vorstellen, wie ein Mensch, der Wut und Rache lebt, jemals zufrieden wird. Man kann sich nicht vorstellen, wie er liebt und wie er geliebt wird. Rache und Wut verschaffen Lust, aber sie sind obsessiv und ohne Perspektive. Und doch braucht es sie, damit sich die Gesellschaft verändert.
Ungerechtigkeit sticht und brennt
Wir brauchen beides, die Wut und die Liebe. Die Wut verändert die Gesellschaft, die Liebe verändert die Menschen.
Liebe kennt keine Rache, sie lebt von der Vergebung und von der Gnade. Wir brauchen beides nicht zuerst von Gott, wir brauchen es von unseren Nächsten. Vergebung und Gnade sind religiöse Konzepte, und sie sind zuerst soziale Praxis und lebendige Empfindung.
Ungerechtigkeit sticht und brennt. Das wissen wir, und deshalb fürchten wir uns vor ihr und der Empfindung, die sie auslöst. Oft begnügen wir uns, nicht die Ursache, sondern die Reaktion, statt die Ungerechtigkeit die Empfindung anzugehen.
Wir verschliessen die Augen, damit wir sie nicht sehen, wir halten uns die Ohren und die Nase zu, so hören und so riechen wir sie nicht.
Aber was ist das für ein Leben, ein blindes, ein taubes, eines ohne Geruch oder Geschmack?
Überwindet alle Grenzen.
Ungerechtigkeit bekämpft man aus eigenem Interesse. Ungerechte Verhältnisse haben die Tendenz, sich auszubreiten. Ungerechtigkeit ist ansteckend. Sie stört den Zusammenhalt, bevor sie ihn zerstört. Zusammenhalt kommt überhaupt erst durch den gemeinsamen Kampf gegen Ungerechtigkeit zu Stande. Alle anderen Methoden beruhen auf Ungleichheit, auf dem Vorteil, auf dem Unterschied – und eben nicht auf dem Zusammenhang.
Gegen die Angst und gegen den Schmerz hilft Reichtum wenig. Materielle Existenzängste lassen sich nur begrenzt durch ein höheres Einkommen bekämpfen. Erfolgreicher ist hier, die Verhältnisse in ihrem Zusammenhang zu begreifen, oder, mit einem anderen Wort, auf die Beziehungen zu setzen, also auf den menschlichen Zusammenhang. Dazu braucht es zuerst Anerkennung. Die Anerkennung der Schwäche, der eigenen und der Schwäche der Mitmenschen. Deine Angst ist auch meine Angst, dein Schmerz ist auch mein Schmerz. Wir wissen beide nicht, was die Zukunft bringt, sicher ist nur, dass wir alle sterben müssen. Wenigstens hier ist das Leben gerecht durch Gleichbehandlung.
Die Wut verändert die Gesellschaft, die Liebe verändert den Menschen.
Lukas Bärfuss
Diese Anerkennung und die Bereitschaft, den anderen nicht auf seinen Schmerz und auf seine Angst zu reduzieren, ihn also nicht in seiner Gleichheit, sondern in seinem Anderssein zu erkennen, dies ist der Anfang einer gerechten Beziehung. In ihr ist das einzelne gleichzeitig das gemeinsame Interesse. Gerechtigkeit ist immer das Interesse aller, und wenn wir den christlichen Begriff der Seligkeit verwenden wollen, dann wird sie erst möglich sein, wenn alle selig sind. Eine Gruppe von Menschen, die ein Mitglied ungerecht behandelt, kann niemals gerecht sein, egal, wie gross diese Gruppe ist.
Diesen Zusammenhang sollten wir als Gesellschaft erkennen und bewältigen. Welche Aufgabe könnte lohnender sein? In der Kirche, in der Wirtschaft, in der Politik, in der Kunst: in einer gerechten Gesellschaft ist das eine nicht vom anderen getrennt. Wie können wir von einer Demokratie reden, wenn diese von einer zutiefst ungerechten und mörderischen Wirtschaft bezahlt wird? Wie können wir Bereiche dulden, in der Menschen systemisch ausgebeutet werden, die Armen in der Hölle braten, die Reichen aber in Abrahams Schoss fläzen?
Darum überwindet alle Grenzen, es gibt sie nicht in der Wirklichkeit! Denkt nicht in Gegensätzen, denkt in Zusammenhängen! Macht keine Versprechen, denn niemand, auch ihr nicht, kennt die Zukunft! Verlegt nichts in die Hoffnung! Tretet in Beziehung! Geht hinaus, überwindet die Gegensätze und schafft Zusammenhänge, jetzt, hier, sofort, für immer!
Die vollständige Gastpredigt können Sie hier lesen oder hier schauen.