«Bei uns ist jeder Tag anders»
Ein Gespräch mit Kurt Rentsch, Teamleiter, und Antonia Mariani, Sozialarbeiterin, über aktuelle Herausforderungen, das Angebot «Fraueziit» und den Nachtbetrieb bei anhaltender Kälte im Café Yucca.
22 Prozent mehr Gästekontakte im Jahr 2023: Wie bewältigt das «Yucca»-Team diesen Anstieg?
Antonia Mariani: Im Alltag federn wir vieles durch gute Teamarbeit ab. Wir unterstützen einander mit kollegialer Beratung, wenn es die Situation erfordert. Ich schätze diese Gespräche mit den anderen Teammitgliedern sehr. Ein guter Ausgleich ist sicher auch wichtig, um mit den schwierigen Geschichten und dem Stress umzugehen. Ich gehe schwimmen, wandern und geniesse meinen grossen Freundeskreis. Kurt Rentsch: In der Tat haben die Kontakte wieder stetig zugenommen, weshalb wir ab 18.30 Uhr keine Beratung mehr anbieten können. Dadurch ist die Zahl der Beratungsgespräche im Jahr 2023 leicht zurückgegangen. Abends führen wir aber weiterhin unterstützende Gespräche mit den Gästen.
Wo lagen die besonderen Herausforderungen?
K. R.: Im Jahr 2023 gab es krankheitsbedingte Ausfälle im Team, die wir kompensieren mussten. Auch die Organisation unserer 50-Jahre-Feier war ein «Hosenlupf», aber der Aufwand hat sich mehr als gelohnt. Generell ist bei uns jeder Tag anders; man weiss nie, was einen erwartet – das ist vielleicht die grösste Herausforderung. A. M.: 2022 gab es Abgänge und Neuzugänge im Team. Deshalb mussten wir im vergangenen Jahr erst einmal zusammenwachsen. Und jetzt profitieren wir davon, dass wir sehr gut eingespielt sind.
Neues Angebot für obdachlose Frauen und Nachtbetrieb in besonders kalten Nächten
Mit «Fraueziit» hat das Café Yucca in Zusammenarbeit mit «Netz4» und dem «Sozialwerk Pfarrer Sieber» erstmals ein spezielles Angebot für obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Frauen geschaffen. Wie sieht die Bilanz aus?
A. M.: Wir haben dieses Pilotprojekt mitinitiiert, um zu sehen, wie gross der Bedarf an einem reinen Frauencafé ist. Zu Beginn im März kamen 20 bis 25 Frauen. Im Dezember waren es bereits 40 bis 45. Das Bedürfnis ist also gross. Unser Ziel war es auch, dass diese Frauen wieder vermehrt unsere bestehenden Angebote nutzen. Auch hier stellen wir fest, dass Frauen, die aus verschiedenen Gründen unsere Angebote nicht mehr in Anspruch nahmen, etwa weil ihnen der Männeranteil zu hoch war, jetzt wieder vermehrt vorbeischauen. Genauso wie Frauen, die noch nie von unseren Angeboten gehört haben. Hier wirkt es wie ein Türöffner, dass sie mich und meine Kollegin Judith jetzt schon von der «Fraueziit» kennen.
Dass hauptsächlich Männer Hilfsangebote für Menschen in Not nutzen, ist eine Tatsache.
A. M.: Ja, das stimmt. Weil wir dieses Problem ernst nehmen, haben wir auch die «Fraueziit» ins Leben gerufen. Denn obdachlose Frauen sind grundsätzlich viel gefährdeter und vulnerabler als Männer. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Frauen einen Ort bieten, an dem sie zur Ruhe kommen und sich sicher fühlen können. K. R.: Vor Corona war der Frauenanteil im «Yucca» höher, weil wir intensiv an einer Lösung gearbeitet haben. Mit unserem Angebot, der koordinierten kirchlichen Passant*innenhilfe für Menschen in Not, ist der Männeranteil stetig gestiegen. Ich verstehe, dass Frauen sich an gewissen Tagen bei uns nicht wohlfühlen, weil unsere männlichen Gäste zu viel Platz einnehmen oder zu rücksichtslos sind.
Obdachlose Frauen sind grundsätzlich viel gefährdeter und vulnerabler als Männer.
Antonia Mariani, Sozialarbeiterin im Café Yucca
Im vergangenen Winter spitzte sich die Situation für Obdachlose in besonders kalten Nächten zu, sodass das Café Yucca an sieben Nächten geöffnet war. Warum ist ein Nachtbetrieb so anspruchsvoll?
K. R.: Die Schwierigkeit für uns ist, dass diese Nachtaktionen den ganzen Betrieb auf den Kopf stellen, weil sie sich nur sehr kurzfristig planen lassen. Der Nachtbetrieb ist also absolut notwendig, aber wir sind nicht wirklich dafür eingerichtet und verfügen auch nicht über die entsprechenden personellen Ressourcen, was eine Belastung für das Team darstellt.
Ihr musstet von Bianca Abschied nehmen, einer obdachlosen Frau, die regelmässig im Café Yucca war. Welches Bild bleibt von ihr?
K. R.: Bianca war eine sehr freundliche, zurückhaltende Person, die sich nie beklagte. Aber ihr körperlicher Verfall war sichtbar und bereitete uns auch Sorgen. Wenn ich nach der Arbeit zum Bahnhof ging, sah ich sie immer dort sitzen. Dieses Bild hat sich mir eingeprägt. Ich werde immer an sie denken, wenn ich dort vorbeigehe. A. M.: Bianca war eine sehr warmherzige Person, die die Gabe hatte, stets gute Laune zu verbreiten – allein durch ihre Anwesenheit. Deshalb kannten und schätzten sie sehr viele Gäste. Ihr Tod hat alle berührt. In den zweieinhalb Jahren, in denen ich hier arbeite, musste ich mich schon von fünf Menschen verabschieden. Das geht sehr nahe. Auch wird mir immer wieder schmerzlich bewusst, dass Menschen in schwierigen Lebenssituationen und ohne Obdach eine viel geringere Lebenserwartung haben.
Besonders schön: die fast schon familiäre Stimmung
Welche Momente des Jahres 2023 sind euch besonders in Erinnerung geblieben?
K. R.: Unsere 50-Jahre-Feier war ein sehr schöner Moment, den wir und auch unsere Stammgäste sehr genossen haben. Wenn unsere Gäste sich abends freundlich verabschieden und zufrieden nach Hause gehen, ist das für mich immer noch etwas Besonderes. Die Stimmung ist dann schon fast familiär, was ich sehr schön finde. A. M.: Mir persönlich ist der Aufbau der «Fraueziit» in spezieller Erinnerung geblieben. Es war sehr schön zu erleben, wie sich die Frauen in diesem neu geschaffenen Raum anfreundeten und einander bei Problemen solidarisch unterstützten.